OLG Hamm: Zum Anspruch des durch heterologe Insemination gezeugten Kindes gegenüber dem behandelnden Arzt auf Preisgabe der Spenderdaten
Die vorliegende Entscheidung des OLG Hamm ist von einer breiten Öffentlichkeit begleitet worden. Das durch den Verein „Spendenkinder“ unterstütze Verfahren richtete sich gegen einen bekannten deutschen Inseminations-Mediziner, dieser hatte die Insemination im Jahre 1990 erfolgreich durchgeführt und sich gegenüber dem Auskunftsverlangen des erzugten Kindes unter anderem auf eine Vereinbarung mit den Eltern über die Nichtbekanntgabe des Samenspenders, seine ärztliche Schweigepflicht und die fehlende Aufbewahrung der entsprechenden Unterlagen berufen. Die Entscheidungsgründe des OLG Hamm sollen nachfolgend wiedergegeben werden:
Die Entscheidung:
Der Auskunftsantrag der Klägerin hat Erfolg. Der Beklagte ist gemäß § 242 BGB zur Erteilung der verlangten Auskunft verpflichtet.[…]
Gem. § 242 BGB besteht eine Auskunftspflicht, wenn es die zwischen dem Berechtigten und dem Verpflichteten bestehende Rechtsverbindung mit sich bringt, dass der Berechtigte in entschuldbarer Weise über das Bestehen und den Umfang seines Rechts im Ungewissen ist und der Verpflichtete die zur Beseitigung der Ungewissheit erforderliche Auskunft unschwer geben kann.
[…] die Klägerin [hat] ein Recht auf Kenntnis ihrer Abstammung, das den Beklagten als Gesellschafter des IVF-Zentrums dazu verpflichtet, ihr die Identität ihres genetischen Vaters mitzuteilen. […]
Zwischen dem IVF-Zentrum und der Klägerin besteht eine Rechtsbeziehung. Die Klägerin ist in den Geltungsbereich des Behandlungsvertrages zwischen dem IVF-Zentrum und den Eheleuten Q einbezogen, der Vertrag wirkt zu ihren Gunsten (§ 328 Abs. 1 BGB). […] Deswegen ist es gerechtfertigt, den Vertrag in dem Sinne auszulegen, dass das IVF-Zentrum auch gegenüber der Klägerin vertragliche Pflichten zu erfüllen hatte und der Vertrag insoweit zu ihren Gunsten wirkt. Dem steht nicht entgegen, dass die Klägerin im Zeitpunkt der von dem IVF-Zentrum zu erbringenden Leistungen noch nicht gezeugt war, weil auch einem nicht erzeugten Kind durch einen Vertrag zugunsten Dritter Rechte zugewendet werden können. […] Das Recht der Klägerin folgt aus ihrem grundrechtlich gemäß Art 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Persönlichkeitsrecht. Dieses und auch die auf Seiten des Beklagten zu beachtenden, grundrechtlich geschützten Rechtspositionen sind bei der Auslegung der in Frage stehenden zivilrechtlichen Vorschriften zu berücksichtigen. Im Privatrechtsverkehr entfalten die Grundrechte ihre Wirkkraft als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen durch das Medium der Vorschriften, die das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen, vor allem auch durch die zivilrechtlichen Generalklauseln.
Das Recht der Klägerin auf Kenntnis ihrer Abstammung ist besonders schützenswert. […] das Persönlichkeitsrecht [umfasst] auch die Kenntnis der eigenen Abstammung. Ausgehend hiervon hat bereits das Interesse der Klägerin an der Kenntnis der eigenen Abstammung erhebliches Gewicht. Dass die Klägerin diese nutzen will, um ihren genetischen Vater auch tatsächlich ausfindig zu machen, evtl. Halbgeschwister kennenzulernen oder mögliche erbliche Krankheiten in Erfahrung zu bringen, ist nur weitere Ausprägung ihres legitimen Interesses. Die Persönlichkeitsrechte der Mutter der Klägerin und ihres gesetzlichen Vaters stehen dem Interesse der Klägerin an der Kenntnis ihrer Abstammung bereits deswegen nicht entgegen, weil ihre Eltern damit einverstanden sind, dass die Klägerin ihre genetischen Wurzeln in Erfahrung bringen will. Ihr Einverständnis haben die Eltern der Klägerin schriftlich erklärt und mündlich im Senatstermin bekräftigt. Auf Seiten des Beklagten sind seine rechtlich geschützten Interessen und auch die erkennbaren, rechtlich geschützten Interessen der Samenspender in die Abwägung einzubeziehen. […] Zu berücksichtigen sind auch die Interessen des Beklagten. Sein Persönlichkeitsrecht und die Freiheit seiner Berufsausübung sind betroffen, wenn er jetzt „gezwungen“ wird, die Namen des Spenders bzw. der Spender preiszugeben, nachdem er seinerzeit Anonymität zugesichert hat. U.U. muss er sogar damit rechnen, von den Spendern auf Schadensersatz in Anspruch genommen zu werden. Die demnach gebotene Abwägung ist im vorliegenden Fall zugunsten der Klägerin vorzunehmen.
Die auf Seiten des Beklagten und der betroffenen Samenspender tangierten Rechtspositionen müssen hinter dem grundgesetzlich besonders geschützten Interesse der Klägerin an der Kenntnis ihrer Abstammung zurücktreten. […] Der Beklagte und die Spender sind bereits deswegen weniger schutzbedürftig, weil sie die Folgen einer anonymen Samenspende im Vorhinein berücksichtigen und sich auf die mit einem Auskunftsverlangen des gezeugten Kindes für sie verbundenen Folgen einstellen konnten. Für ein vorrangiges Recht der Klägerin spricht insbesondere die familienrechtliche Rechtslage. Nach dieser musste dem Beklagten wie auch den Spendern bei der künstlichen Zeugung klar sein, dass jedenfalls das gezeugte Kind die eheliche Vaterschaft zu einem späteren Zeitpunkt würde anfechten können und es dann ein Recht auf Feststellung der Vaterschaft des Samenspenders mit allen sich daraus ergebenden rechtlichen Konsequenzen haben konnte. Diese familienrechtlichen Rechtspositionen des Kindes konnten alle Beteiligten (auch die Kindeseltern) bei der künstlichen Zeugung nicht wirksam ausschließen. Die familienrechtlichen Vorschriften waren (und sind) insoweit zwingend.[…] Der Beklagte verstößt nicht gegen § 203 StGB, wenn er die geforderte Auskunft erteilt. Da die Klägerin die Auskunft verlangen kann, handelt der Beklagte nicht unbefugt im Sinne der strafrechtlichen Bestimmung, wenn er den Auskunftsanspruch erfüllt […]
Eine Auskunftserteilung ist dem Beklagten nicht bereits dann unmöglich, wenn er persönlich die Namen der als Erzeuger der Klägerin in Betracht kommenden Samenspender nicht mehr erinnert. Er muss vielmehr zunächst alles Zumutbare unternommen haben, um die geschuldete Leistung zu erbringen. Erst wenn hiernach feststeht, dass er die Auskunft nicht erteilen kann, ist sie unmöglich, wobei der Einwand der Unmöglichkeit auch (noch) im Vollstreckungsverfahren erhoben werden kann […]
Bewertung:
Die Entscheidung des OLG Hamm ist folgerichtig und zutreffend; gleichwohl macht sie die Notwendigkeit einer eindeutigen gesetzgeberischen Regelung mehr als deutlich. So ergibt sich der Auskunftsanspruch des Kindes nicht aus einer konkreten Befugnisnorm, vielmehr ist hier auf den allgemeinen, aus Treu und Glauben resultierenden, Auskunftsanspruch des BGB abzustellen. Bereits dieses Abstellen auf einen „offenen“ Paragraphen und die damit verbundene Interessenabwägung durch das jeweils erkennende Gericht, bergen erhebliche Rechtsunsicherheiten. Im vorliegenden Fall hat das OLG zu Gunsten des Spenderkindes entschieden, die Vorinstanz war - mit ebenso nachvollziehbarer Begründung - zum gegenteiligen Ergebnis gelangt. Mit Blick auf die mit dem Auskunftsverlangen betroffenen Rechtspositionen des Spenderkindes, aber auch des (anonymen) Spenders ist eine klare gesetzliche Regelung daher zwingend erforderlich. Die Entscheidung zu Gunsten eines Auskunftsanspruches ist moralisch, wie rechtlich vertretbar; ihre Auswirkungen sind jedoch nur schwer absehbar. Zu Recht weißt das OLG Hamm darauf hin, dass auch das über eine (anonyme) Samenspende erzeugte Kind, Kind im Rechtssinne ist und zwar mit allen daran ankünpfenden familienrechtlichen Konsequenzen. Ein Samenspender, dessen Samen unter Umständen zu hunderten Nachkommen führen kann, kann hierdurch erheblich belastet werden. Die Auswirkungen auf die „Spenderfamilie“ (Art. 6 GG) können damit ebenso gravierend wie unverhältnismäßig sein. Diese Konsequenzen haben viele Spender sicherlich und entgegen der Ansicht des OLG Hamm nicht bedacht und auch nicht bewusst in Kauf genommen. Bereits die für eine Spende gezahlte „Vergütung“ spricht hier eher für das Gegenteil. So verständlich die Situation des Spenderkindes auch ist, so gefährlich ist die fehlende familienrechtliche Flankierung der Samenspende. Nun, nachdem das Urteil des OLG Hamm erhebliche Beachtung erfahren hat, dürften die familienrechtlichen Konsequenzen, bis hin zum Pflichtteils- und Unterhaltsanspruch, hinreichend bekannt sein. Es fragt sich jedoch, ob vor diesem Hintergrund weiterhin mit einer hohen Spendebereitschaft gerechnet werden kann. Fakt ist, für die meisten Spender dürfte es sich um ein „einfaches Geschäft“ handeln, etwaige familienrechtliche und ggf. auch finanzielle Auswirkungen sind hiermit sicherlich nicht abgegolten. Soweit der Gesetzgeber die heterologe Insemination gleichwohl (und im Interesse zeugungsunfähiger Eltern, zu Recht!) als zulässig ansieht, sollte daher auch die Situation der potentiellen Samenspender dauerhaft auf eine sichere Rechtsgrundlage gestellt werden. Es ist eine Sache, das „gezeugte“ Kind kennenzulernen, eine andere Sache, dieses auch mit allen rechtlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen als solches anzuerkennen. Der Spender selbst wird - ganz gleich des Auskunftsanspruches gegenüber dem Arzt - sicherlich auch nicht gezwungen werden können, mit dem Kind in Kontakt zu treten.
Juliane Kazemi